Analyse des Gedichts Goethe Prometheus (anonym veröffentlicht 1774)
- Alexander Kropp
- 20. März
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Juli
1. Einzigartigkeit der Epoche des Sturm und Drang-Notwendigkeit der die Veränderung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art besonders berücksichtigenden Analyse
2. Prometheus, Goethe 1774 (anonym veröffentlicht, mit Namen und überarbeitet 1789)
a. Formale Strukturen – Widerspiegelung des Bewusstseins
b. Inhaltliche Analyse: Ausdruck revolutionären Bewusstseins Goethes
3. „Grenzen der Menschheit“-Ausdruck der Dynamik Goethe’schen Bewusstseins
Zwischen geistesgeschichtlicher Entwicklung und realer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderung im Geschichtslauf bestand und besteht immer eine Diskrepanz, wie es die historische Erfahrung zeigt. Mit einer Ausnahme. Vor allem in der Epoche des „Sturm und Drang“ können wir ein Zusammenfallen von künstlerisch- schöpferischer und realer sozioökonomischer Entwicklung ausmachen. Das ist gerade die Einzigartigkeit dieser Epoche und, pointiert ausgedrückt die zwingende Begründung für die unbedingte Notwendigkeit der in diese Analyse angewandten Vorgehensweise: Nur in der zentralen Anwendung des Prinzips des Aufzeigens der dialektischen Bedingtheit von Entwicklung der Geistesgeschichte und ökonomischen und sozialen Umgestaltungen kann das zu analysierende Werk Goethes, das Gedicht „Prometheus“, in hinlänglicher Weise interpretiert werden. Der Hinweis auf die Einzigartigkeit der Epoche, der das Werk entstammt und die daraus resultierende Begründung der Struktur der Analyse soll darüber hinaus verdeutlichen, dass das genannte Prinzip in allen Stufen der Analyse seine Anwendung finden muss, d.h.: bei der formalen Untersuchung wie bei der inhaltlichen gleichermaßen.
Goethes Gedicht „Prometheus“ erschien 1774 anonym wegen seiner Tabubrechungskraft. Erst 15 Jahre später 1789, hat es dann Goethe gewagt, eine stark überarbeitete Fassung seines Werks unter seinem Namen zu veröffentlichen. Der Analyse liegt die erste Fassung von Goethes Prometheus mit allen ihrer revolutionären Potenz zugrunde.
Diese revolutionäre Potenz lässt sich bereits anhand der formalen Gestaltung ausmachen. Bewusst lehnt der junge Goethe alle normativen Vorgaben einer Poetik (Gottscheds und Opitz beispielsweise, die mit ihrer Poetik einen Schaffensrahmen für den Literaturproduzenten und damit ein allgemeinverbindliches Format Struktur setzen wollten; allerdings wird bereits in ihrer Epoche ein solches Vorgehen als Epigonentum abgelehnt) ab: gerade die Abkehr von festgelegten Strophen- und Reimschemen als Mittel des Durchbrechens der als beengend empfundenen Vorgaben wird rational und geplant angewandt. Da ist kein Reinschema, keine, die Verse genau festlegende Strophenvorgabe mehr. Nicht mehr die vorgegebene verbindliche Formatstruktur formt das Gedicht, sondern, das ist es, was die revolutionäre Potenz in der formalen Gestaltung des Goethe‘schen Prometheus ausmacht: Der Dichter selbst schafft sich die Vorgaben. Wie der Prometheus als das schöpferisch tätige Individuum, um im Epochenbegriff zu bleiben, das Genie, dies als Vorgriff zur inhaltlichen Analyse, wird Goethe schöpferisch produktiv tätig und schafft eine neue Struktur, quasi als Ausdruck eines revolutionären Kampfes gegen überkommene geistesgeschichtliche-literarische Ordnungssysteme. Es tritt also bereits in den formalen Strukturen das deutlich hervor, was inhaltlich ohnehin leicht nachzuweisen sein wird: der geistesgeschichtliche Bruch als Ausdruck der Veränderung im sozialen und ökonomischen Bereich: die bürgerliche Emanzipationsbewegung.
Wie sieht nun die angesprochene „neue Struktur“, die Goethe im Selbstverständnis als Sturm- und Drang- Genie selbst gesetzt hat im Sinne des autonomen schöpferischen Individuums aus? Im Gedicht lässt sich auf formaler Ebene eine Zweiteilung nachweisen. Die am Schluss, in der Schlussstrophe in einer Quintessenz mündet. Diese Quintessenz ist der radikale Bruch mit allem, was Prometheus Produktivkräfte hemmt, und somit die logische Folge aus dem, was Goethe im ersten Teil der formalen Zweiteilung darstellt: den Bereich des menschlichen, damit den Bereich des schöpferisch tätigen, produktiven Individuums (Erste bis dritte Strophe.). Davon deutlich hebt sich ab: der göttliche Bereich, dargestellt im zweiten Teil des Gedichts (vierte bis sechste Strophe). Um die Kontraste zwischen beiden Teilen deutlich zu machen: Im ersten Teil erscheint das Ich, des Prometheus der „[…] akut hervortretende Zug des Menschenschicksals […] die Isoliertheit jedes Menschen […]“ (Karl Kerenyi, Goethes Prometheus aus Literatur und Gesellschaft, hrsg. Ulshöfer) im zweiten Teil dagegen die Ansprache, das „Du“ in der Anrede, ja fast Beschimpfung der Götter.
Also auf der einen Seite die Selbstdarstellung, auf der anderen die direkte Ansprache, der Appell. Welches die inhaltlichen Konsequenzen dieser formalen Struktur sind, soll in einem nachfolgenden Teil der Arbeit erfolgen. Welche weiteren formalen Ausdrucksmöglichkeiten einer revolutionären Potenz und der schöpferischen Kraft der Sturm-und-Drang-Epoche können wir Goethes Gedicht entnehmen?
Die formale Kraft ist es, die aus der potent rhythmisierten Sprache des Gedichtes ableitbar ist. Das Gedicht in jambischen Versen beeindruckt emotional und zeigt die revolutionäre Kraft der Sturm-und-Drang-Bewegung, besonders in der ersten Strophe.
Doch ist es ja eines der formalen Grundelemente des Gedichts, sich nicht durch formale Vorgaben einengen zu lassen, so dass der Wechsel und die grundsätzliche organische Anpassung des Rhythmus an die inhaltliche Aussage selbstverständlich sind: Das Genie braucht keine normativen Vorgaben, die einzigen Vorgaben entstammen ihm selbst originär. Hier wird die Programmatik der Epoche, der Geniekult, zentral thematisiert.
Kommen wir zur inhaltlichen Analyse. Um die logische Gesamtstruktur der Untersuchung aufzuzeigen, sei das Ergebnis strukturell zu Anfang dargestellt. Ausgehend von einer inhaltlichen Ambivalenz von auf der einen Seite individualisierender Interpretation, in der die Autonomiebestrebungen des schöpferischen Individuums in den Vordergrund rücken, beziehungsweise auf derselben Ebene gesellschaftlich-wirtschaftlicher Deutung, die die Entwicklung der Produktivkräfte - dieser Ansatz rückt von der marxistischen Literaturtheorie her - als zentralen Ansatzpunkt der Interpretation verwendet und die gesellschaftlich repräsentative Tat Prometheus als Widerspiegelung der bürgerlichen Emanzipationsbewegung sieht, und auf der anderen Seite theologischer Interpretation, die sich in zwei unterschiedlich nuancierte Richtungen teilen lässt: Eine Richtung im Sinne einer rein atheistischen, die andere im Sinne einer nur den Herrschaftsanspruch einer göttlichen Weltordnung leugnenden Deutung, kommt man zu einer die beiden Teile der Ambivalenz verschränkenden Gesamtwürdigung, die in besonderem Maße berücksichtigt, dass keine Dialektik zwischen beiden sich ergänzenden ambivalenten Aspekten besteht so, dass die beiden Teilaspekte erst in einer Einheit das Gedicht gänzlich erfassen.
Der erste Teilaspekt – individualisierende bzw. sozialökonomische Gesichtspunkte thematisierende Interpretation – lässt sich vereinheitlichen, verschränkt man die unterschiedlichen Ansätze in einer Synthese miteinander: Prometheus dient dabei als Musterbeispiel für das Streben des Individuums nach Autonomie. Dieses Beispiel zeigt gesellschaftliche Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten auf, insbesondere durch die Rebellion gegen die Götter. Es wird ein Bild der gesellschaftlichen Umgestaltung gezeichnet, bei dem individuelles Handeln und gesellschaftliches Wirken vernetzt werden. Doch wie sieht die Rebellion von Prometheus aus und welche Aussagen und Perspektiven ergeben sich aus diesem Aspekt?
Prometheus, so deutet es Kerenyi aus der griechischen Mythologie und dem Verständnis von derselben in der Epoche ist „kein Gott, kein Titan, kein Mensch, sondern das unsterbliche Urbild des Menschen als Urempörer und Jasager zu seinem Schicksal […]: der Urbewohner der Erde als Gegengott als Herr der Erde gesetzt“. Damit muss Prometheus als das Genie schlechthin in Gegensatz zur statischen Welt der Götter treten: Alle Dynamik Prometheus’ trifft auf die von den Göttern gesetzten Grenzen und hemmt ihn. So ist schon die Deutung aus den sozioökonomischen Verhältnissen der Zeit vorgegeben: Stellt Prometheus im Bild der Mythologie „den Urbewohner der Erde, das unsterbliche Urbild des Menschen“ da. Kann er in der die Entwicklung der Produktivkräfte miteinbeziehenden Deutung nur als die Verkörperung des bürgerlichen Ideals des produktiven Menschen, des arbeitenden Menschen verstanden werden?
Der Widerspruch des schöpferischen Individuums und aller Herrschaftslegitimation verlustig gegangener Götterwelt spiegelt somit den Grundwiderspruch der Epoche wider. Es ist dies der Antagonismus der alten statischen Gesellschaftsordnung Feudalismus und Ständestaat und der neuen, auf Privateigentum basierenden Gesellschaftsordnung.
„Musst mir meine Erde. Doch lassen stehen und meine Hütte, die du nicht gebaut und meinen Herd, um dessen Glut du mich beneidest“. Diese Verse sind der Ausdruck für die Veränderung, (die notwendige Veränderung) der Produktionsweise mit der Grundvoraussetzung der bürgerlichen Produktion, das bürgerliche Eigentum, schlechthin.
Die ökonomische Macht beim Bürgertum, steht der politischen Macht des Adels antagonistisch gegenüber. Der tätige Mensch ernährt die Götter. („ihr nähret kümmerlich. Von Opfersteuern und Gebetshauch. Eure Majestät und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler hoffnungsvolle Toren“). Im historischen Prozess - dass Goethe die Geschichte in diesem Gedicht als etwas Dynamisches, im Werden Befindliches sieht, zeichnen das Bild der Kindheit und die Verse „Hat nicht zum Manne geschmiedet, die allmächtige Zeit mich und das ewige Schicksal“ ist es so weit gekommen, dass die herrschende Schicht von der politischen Macht abgelöst werden muss, da der Mensch zum Schöpfer seiner selbst geworden ist. („Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig, glühend, Herz“) und damit keine Legitimation des Herrschaftsanspruchs der Machthaber der alten statischen Gesellschaftsordnung mehr existiert. „Hier sitze ich, forme Menschen nach meinem Bilde“. Das ist die revolutionäre Tat Prometheus: Der Mensch nimmt sein Schicksal selbst in die Hand, wird zum eigenen Bildner seiner Gesellschaft. Damit ist der Mensch als schöpferisches Wesen - wieder ein Ausdruck des Geniekults -unbegrenzt geworden und findet die Grenzen nur in sich selbst: jetzt ist er frei, die Produktivkräfte voll zu entfalten.
Ganz deutlich wird also das dynamische Welt- und Menschenbild Goethes in diesem Gedicht.
Prometheus wird von der allmächtigen Zeit und dem ewigen Schicksal zum Manne geschmiedet, so wie er sich verändert, muss sich auch die Welt um ihn verändern in einem revolutionären Sprung.
Der zweite Teilaspekt enthüllt sich in der Gotteslästerung Prometheus‘: Die Götter verlieren das, was sie als Götter von den Menschen abhebt: denn es ist Prometheus, das unsterbliche Urbild des Menschen, das den Menschen „nach seinem Bilde“ formt. Damit ist der Mensch derjenige, der sich die Legitimation seiner Existenz selbst schafft. Es bleibt demnach nichts mehr übrig, was die Götter als Götter auszeichnet. In der Tat sind sie keine Götter mehr.
Es lässt sich also der Atheismus des Gedichtes ableiten. Eine Differenzierung der reinen atheistischen Interpretation nimmt jedoch Goethe selbst vor, indem er zwar einen Herrschaftsanspruch der christlichen Weltordnung ablehnt, aber in der Natur doch eine göttliche Ordnung zu erkennen glaubt.
Die Quintessenz beider Teilaspekte, mit der sich die Gesamtwürdigung ergibt ist die Legitimation des Menschen aus seiner Existenz und damit die Befreiung des schöpferischen Individuums aus Verhältnissen, die die Entfaltung seiner produktiven Fähigkeiten hemmen.
Goethe hatte mit diesem Gedicht ein erhebliches Maß revolutionären Bewusstseins demonstriert. Er blieb sich aber selbst treu, denn seine Vorstellung des dynamischen Menschenbildes hat er an sich selbst verwirklicht: betrachten wir nur sein Gedicht Grenzen der Menschheit, dessen zweite Strophe lautet. „Denn mit Göttern soll sich nicht messen/ Irgendein Mensch/ Hebt er sich aufwärts/ und berührt/ mit dem Scheitel die Sterne/ nirgends haften dann/ die unsichern Sohlen.“ So erkennen wir eine klare Veränderung seines Bewusstseins: weg von Revolution.
Dies ist wohl das beste Beispiel für die von Goethe im Prometheus so großartig vertretene Dynamik der menschlichen Existenz.
V.i.S.d.P. Alexander Kropp, 1987
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